Virologisches Triumvirat der Fehleinschätzungen
Hendrik Streeck wollte Filmmusik komponieren. Deshalb hat er Musikwissenschaft und BWL studiert, um Produzent zu werden. Klingt wirr? Ist es auch. Leider haben auch viele von Streecks Corona-Aussagen eine ganz ähnliche Tendenz, einem ein Fragezeichen der Konfusion ins Gehirn zu bohren. Das liegt daran, dass er Aussagen trifft, von denen man nicht weiß, worauf sie fußen wie z.B. das Bestreiten einer zweiten Welle. Genauso wie sein merkwürdiges Hin- und Her bezüglich strengerer Maßnahmen, die er bis in den Oktober ablehnte, nur um Mitte November zu erklären, dass der Lockdown" jetzt gut und richtig (war), (…) das einzige Mittel, das wir in der Situation hatten.“ Daneben gab es natürlich noch irritierende Aussagen zu Schweden, dessen Bevölkerungsdichte 24 Einwohner je km2 beträgt (in Deutschland sind es 234 Einwohner pro km2), der (Un)Wahrscheinlichkeit eines Corona-Impfstofferfolgs und viele mehr.
Dass Streeck Schnelltests schon früh zurecht forderte, will ich nicht unerwähnt lassen. Natürlich erzählt auch er nicht nur Blödsinn. Ärgerlich an Hendrik Streeck ist jedoch, dass er diese gehäuften Fehleinschätzungen, vor allem natürlich jene fatale bezüglich der Gefahr einer starken zweiten Welle, nicht ernsthaft öffentlich als solche eingestanden hat. Dies aber wäre die Pflicht eines seriösen Wissenschaftlers. Wie man es z.B. machen kann, hat Karl Lauterbach kürzlich gezeigt, als er seine Einschätzung vom Mai 2020 zum Corona-Konzept der Bundesliga öffentlich als falsch anerkannt hat. Hat er damit an Glaubwürdigkeit verloren? Nein, natürlich nicht. Eher im Gegenteil. Wer seine Irrtümer erkennt und auch öffentlich anspricht, verdient Respekt. Denn genau an dieser Stelle verläuft die Grenze zwischen moderner Wissenschaft und spätmittelalterlicher Scholastik.
Dennoch muss der Fairness halber einmal mehr betont werden, dass Hendrik Streeck mit seinen Fehleinschätzungen und seinen Gut-Wetter-Weiter-so-Analysen nicht alleine ist. Auch andere prominente Virologen mischen dabei eifrig mit, unter denen Hendrik Streeck fast schon harmlos scheint - verglichen z.B. mit seinem Kollegen Jonas Schmidt-Chanasit. Denn auch wenn Streeck wissenschaftlich immer wieder fahrlässig argumentiert und analytisch daneben liegt, hat er bis heute nie die sachliche Debatte gegen den persönlichen Angriff eingetauscht. Seine Fehleinschätzungen, so albern es klingen mag, bleiben stets „sachlich“.
Das sieht bei Jonas Schmidt-Chanasit ganz anders aus, auch wenn er natürlich genauso wie Streeck – auch das sei der Fairness halber nicht unterschlagen – regelmäßig aus dem gleichen Repertoire an „sachlichen“ Empfehlungen („AHA-A-L ist ausreichend“, "Gebote anstelle von Verboten, (…) Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung“, „Altenheime besser schützen“, „Schule öffnen") schöpft, die er sogar noch im Auge des Pandemischen-Hurrikan im Spätherbst weiter wiederholt hat. Leider aber kann man diese Empfehlungen nicht als gehaltvolle, virologische Debattenbeiträge ansehen.
Denn einerseits sind sie nichts mehr als plumpe Allgemeinplätze, denen jeder sowieso zustimmen würde, die aber mitten in einer großen zweiten Welle zu äußern, ungefähr so hilfreich sind, wie als UN-Diplomat, beständig nur Frieden für Syrien und ein Endes des Krieges zu fordern. Andererseits sind die Empfehlungen teilweise grob fahrlässig, weil sie eine gefährliche Fehleinschätzung der Lage bedeuten und so den Weg zu falschem Handeln ebenen.
Letzteres schlug sich dann auch offenkundig für alle im langen Zögern der Politik nieder, im Frühherbst mit strengeren Maßnahmen auf die aufziehende zweite Welle zu reagieren. Selbst Mitte November, als man merkte, dass der Anfang November begonnene und unumgängliche Lockdown-Light, das Infektionsgeschehen nur gebremst und stabilisiert, nicht aber gesenkt hatte, zögerte man, die Maßnahmen zu verschärfen. Die politisch Verantwortlichen haben sich damals zu lange für einen faulen Kompromiss zwischen strengen und lockeren Maßnahmen entschieden.
Den Empfehlungen von Michael Meyer-Herrmann z.B., dessen Prognosen aus dem Herbst sich einmal mehr als richtig erweisen sollten, die Maßnahmen bereits im Oktober deutlich zu verschärfen und Anfang November in einen wirklich strikten Lockdown zu gehen, war man nicht gefolgt. Aber auch den virologischen Gutwetter-Vorschläge der Streeck-Schmidt-Chanasit-Brigade brachte man kein großes Vertrauen mehr entgegen. Denn selbst der Politik war nicht entgangen, dass diese seit Mai mit fast all ihren Einschätzungen zur Pandemieentwicklung beständig daneben lagen.
So hing Deutschland spätestens seit November zwischen zwei virologischen Sichtweisen, was zu einer großen Lockdown-Paralyse in der Politik von Mitte November bis Mitte Januar führte. Viel Zeit ging so verloren, viel unnötiges Leid war die Folge.
Erst mit der dramatischen Ausbreitung der B117-Variante in Großbritannien Mitte Dezember änderte sich die Sichtweise Schritt für Schritt und mündete in die Einsicht, dass etwas getan werden müsse. Gleichzeitig reagierte man auf der virologischen Gut-Wetter-Front und es bildete sich für alle sichtbar ein neues virologisches Duumvirat heraus. An die Seite von Schmidt-Chanasit trat nun sein Virologen-Freund Klaus Stöhr, um geeint gegen das Narrativ von der gefährlichen B117-Variante und weiterhin gegen den Lockdown vorzugehen. Aber dazu später mehr.
Denn Schmidt-Chanasit beschränkt sich nicht nur auf die sachliche Fehleinschätzung, die, wie gesagt, jedem auch mal zugestanden werden sollte. Sondern er wagt sich auch auf das Terrain des direkten, persönlichen Angriffs. Jonas Schmidt-Chanasits virologische Unverschämtheit hat es wirklich in sich und verdient deshalb, hier noch einmal genauer unter die Lupe genommen zu werden. Gerade in den letzten Monaten haben seine ad hominem Angriffe nicht nur zugenommen, sondern sich auch noch verschärft. Man könnte fast meinen, dass er das Anton Kuh Bonmot („Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich“) irgendwo gelesen und nicht als ironische Bemerkung, sondern als klare Handlungsanweisung verstanden hat. Denn Schmidt-Chanasit geht es offensichtlich nur noch darum, seinen virologischen Kontrahenten (warum auch immer er sie als solche ansieht?) eins zu verpassen - koste es, was es wolle. Selbst seinen guten Ruf!
Drei besonders peinliche Beispiele verdeutlichen dieses „argumentative" Trauerspiel. Einmal wäre da natürlich sein bodenlos dummer Kommentar zu der Forderung von Christian Drosten nach einer „massiven Informationskampagne“ bezüglich der NoCovid-Strategie zu nennen.
Darüber hinaus gab es seinen nach hinten losgegangenen Versuch, Karl Lauterbach zu diffamieren, da der Vorwurf, Lauterbach sei die Antwort auf eine Frage in der Talkshow von Maybrit Illner schuldig geblieben, im gleichen Maße lächerlich wie bösartig war. Denn den Umstand, dass Karl Lauterbach gar keine Zeit zu antworten hatte, da die Sendung zu Ende war, erwähnte Schmidt-Chanasit natürlich nicht. Es ging ihm eindeutig nur darum, Karl Lauterbach zu diskreditieren. In klassischer BILD-Manier setzt Schmidt-Chanasit hier einfach darauf, dass die Leute seinen Schlagzeilen-Kommentar als Tatsachenbeschreibung akzeptieren und gar nicht weiter forschen, ob der Vorwurf, den er erhebt, gerechtfertigt ist oder nur eine plumpe Beleidigung in Form einer Unterstellung ohne sachliche Basis.
Die letzte prägnante Pointe seiner destruktiven Desinformationskampagne gab es dann vor ein paar Tagen, als er sich zu einem so offensichtlichen argumentativen Widerspruch verstieg, dass man sich wirklich fragt: ist das noch bösartig oder einfach nur dumm?
Gerne würde ich Jonas Schmidt-Chanasit deshalb als Experten abhaken und ignorieren.
Leider aber ist das nicht so leicht möglich. Denn sein Wort und das seiner Virologen-Freunde hat zu viel Gewicht in der öffentlichen Debatte und im politischen Raum, auch wenn er selbst das Gegenteil in steter Regelmäßigkeit betont bzw. retweetet. Deshalb ist es wichtig, seine Einschätzungen zu kennen und zu wissen, welche Narrative und „Empfehlungen“ er und seine Viro-Kumpels gerade pushen.
Und trotzdem: Wenn ich das Ganze etwas distanziert betrachte, ist mir gerade das Verhalten von Schmidt-Chanasit sehr unverständlich und ich kann mir beim besten Willen bis heute keinen richtigen Reim darauf machen. Auch weiß ich eigentlich nicht, wann er begonnen hat, diese nicht nur wissenschaftlich unseriöse, sondern auch menschlich unsympathische Seite von sich zu zeigen und auszuleben. Denn mittlerweile tut er genau das, was er unbeholfen versucht hat, Christian Drosten vorzuwerfen: Jonas Schmidt-Chanasit fährt eine Kampagne! Er biegt sich die Argumente zur pandemischen Lage so zurecht, wie sie ihm gerade passen, versucht sich in persönlicher Diffamierung von Kollegen und ist dabei eine merkwürdige virologische Partnerschaft mit Klaus Stöhr eingegangen. Wie ein eingespieltes Team pushen sie sich gegenseitig in der Öffentlichkeit und auf Twitter. Mal schreibt der eine die Threads, nimmt es dabei mit den Fakten nicht immer so genau - es muss ja ins eigene Narrativ passen - und gibt lange Interviews, während der andere alles in steter Regelmäßigkeit brav retweetet und bestätigend kommentiert. Ein anderes Mal ist es umgekehrt!
Während die „Performance" von Hendrik Streeck einem Käseauflauf im Wind gleicht (also ein fast albern, surrealistisches Ereignis darstellt), lässt sich für den Auftritt von Jonas Schmidt-Chanasit und Klaus Stöhr nicht so leicht ein passendes Bild finden. Ihr Verhalten grenzt sich von dem Hendrik Streecks auch dadurch ab, dass es, so unbeholfen es zuweilen scheint, zielgerichtet ist. Jonas Schmidt-Chanasit und Klaus Stöhr führen eindeutig irgendwas im Schilde und scheinen, mit einigen Leuten ihres Metiers persönlich abrechnen zu wollen. Verbitterung durchzieht so manche Tweets, Kommentare und Interviews.
Dieser merkwürdige „Feldzug" der beiden Virologen könnte uns eigentlich egal sein, wenn ihre Aussagen nicht so viel mediale und politische Wirkkraft besäßen. Denn Ihre gegenwärtige Kampagne zum Öffnen und das Herunterspielen der Gefahr von Mutanten wie B117 usw. könnte uns einmal mehr ins gleiche pandemische Messer rennen lassen, in das wir durch Überheblichkeit, Ignoranz und Dummheit schon einmal im letzten Jahr gerannt sind.
Es ist wichtig zu betonen, dass das blödsinnige Lagerdenken von „guter Virologe, schlechter Virologe“, das man allerorten wahrnehmen kann, an sich abzulehnen ist. Allerdings hat sich eine bestimmte Gruppe von Virologen in den letzten Monaten so häufig geirrt und so viele schlechte und nutzlose Empfehlungen gegeben, dass es angemessen ist, sie beim Namen zu nennen und auch deutlich zu kritisieren.
Denn ihre durch potente wirtschaftliche Lobbygruppen und den Axel-Springer-Verlag gestützte Kampagne zu großflächigen Öffnungen u.v.m. ohne ausreichende Vorkehrungen im Angesicht der dritten Welle kann viel neues, unnötiges Leid zur Folge haben. Ein großes Lockern in die beginnende dritte Welle, statt noch ein paar Wochen mit Vorsicht und Besonnenheit die Kitas und (Grund-)Schulen langsam zu öffnen, die Schnelltests strukturiert mit einer guten Kommunikationsstrategie einzuführen, beim Impfen (endlich) voranzukommen und den Lockdown bis dahin aufrechtzuerhalten, markiert am Ende womöglich nur den Beginn des 3. Lockdown, die Verbreitung neuer Varianten, ein Senken der Impfwirkung. Kurz, viel Leid und Frust und vieles mehr. Wir werden dann nichts gewonnen haben, aber viel verloren!