Die Sternstunde der Blöden
Schon wieder zeigt sich eine verblüffend oberflächliche Facette der Kulturwelt. Mit der kuriosen Aktion #allesdichtmachen zeigen sich prominente Schauspieler so nackt wie nie. Nämlich ohne Buch, ohne Regie, sie sind sie selbst. Das Resultat ist ‘cringeworthy’ und erweckt mehr Mitleid als Wut. Trotzdem liegt die Schuld nicht bei denen, die sich vor der Kamera labernd ablichten lassen.
Der Verlauf dieser Aktion, inklusive der schnellen Entfernung vieler Videos, lässt vermuten, es gibt hier eine Anhäufung von Fehlern, angetrieben durch eine irritierende Mischung aus Hilflosigkeit und Aktionismus der Schauspieler. Genauer angeguckt lassen sich treibende Kräfte hinter den Kulissen erkennen (wer ist denn genau ‘Wunder am Werk GmbH’?, wie groß ist die Rolle von Dietrich Brüggemann?). Auf jeden Fall haben wir hier ein Werk, wogegen das Gal Gadot "Imagine"-Fiasko ziemlich harmlos scheint.
Was leider in anderen Zeiten als harmlose Kuriosität wenig beachtet wäre, trifft im aktuellen kulturpolitischen Klima auf offene Ohren. Seit gut einem Jahr befinden wir uns nämlich in einem "Kultur-Vakuum" in dem Sinne, dass die Öffentlichkeit gerade für alle nicht digitalen Kunstgattungen geschlossen bleibt. Das hat Folgen:
- Kunst- und Kulturschaffende haben das Gefühl, dass sie sich nicht mehr ausdrücken können und den Kontakt zu ihrem Publikum verlieren. Sie fühlen sich unsichtbar und fürchten einen sisyphosschen Wiedereinstieg in ihren Beruf.
- In der Situation, in der tatsächlich alle Kulturinstitutionen geschlossen sind und leer stehen, vibriert jeder Pieps aus allen Ecken. Sogar eine leere Aussage trifft auf ein riesiges Echo.
Neben der gesundheits-epidemiologischen Krise ist die Corona-Pandemie auch eine Herausforderung für die Gesellschaft. Da die große Mehrheit durch die Pandemie in den eigenen vier Wänden hockt, bleibt der (ideologische) Marktplatz leer. Ein öffentlicher Raum, physisch und auch ideologisch, ist scheinbar nicht besetzt. Genau auf solche Momente warten Extremisten. Sie verstecken sich in dunklen Ecken der Gesellschaft. Wenn die Leute ratlos und verzweifelt sind, springen sie aus ihren Verstecken und bieten ihren Stuss als große Erleuchtung und Hoffnung an. Das ist dann die Stunde der Idioten, da kommen die, die sonst zu Hause im Internet getrollt haben. Plötzlich stehen sie am helllichten Tage auf dem Marktplatz und protestieren. Schnell machen sich alle anderen ‘Rebellen’ auf zum Festival. Sie sehen eine Konterbewegung und das erweckt einen uralten Instinkt: Da, wo gegen das Establishment protestiert wird, wird was richtiges gemacht!
Was als Extremismus begonnen hat, findet langsam seinen Weg in die Mitte der Gesellschaft. Schließlich sind alle müde, besorgt, erodiert. Ein öffentlicher Ausdruck, egal wie kurios, trifft die Nerven, legt einen Finger in die Wunde. Zwar liest man jeden Tag von Studien, von der Gefährdung des Gesundheitssystems, Epidemiologie und Statistiken. Das wird aber übertönt von den Kindern, die schon seit einem Jahr im Nebenzimmer täglich schreien, von der Sehnsucht nach dem Lieblings-Skigebiet, der jährlichen Kreuzfahrt... Das innere Kind in einem selbst gewinnt. Es ist in diesem Moment, dass eine Bewegung, die mit Extremisten und Idioten angefangen hat, gefährlich wird. Und hier stehen wir gerade.
Um die Pandemie einzudämmen, brauchen wir eine besonnene Politik und gesellschaftliche Solidarität. Stattdessen bedroht uns ein Rechtsruck und eine Ent-rationalisierung der Gesellschaft.
Wir dürfen nicht vergessen: ein riesiger Teil der Bevölkerung, trotz Unmut, Müdigkeit und Depression, versucht weiterhin gewissenhaft die Corona Pandemie einzudämmen. Durch Einhaltung der leider oft unklaren und uneinheitlichen Regeln, durch Rücksicht und Aufmerksamkeit. Das reicht aber leider nicht. In Zeiten von Pandemie, wie in Zeiten von Klimakrise, ist man nicht von sich allein, sondern von allen abhängig.
Es wäre eben die Aufgabe dieser prominenten Schauspieler, ihrer Regisseure, der Autoren und der Intendanten diese gesellschaftlichen Probleme anzusprechen - und zwar dringend. Mit allen Mitteln! Es ist ihre Aufgabe, uns eine größere Perspektive zu geben für die schweren Aufgaben, die vor uns stehen und die ein größeres (Nach-)Denken von uns allen verlangen. Damit wir zwar unserem inneren Kind zuhören, ihm aber gleichzeitig die komplexe Welt geduldig und liebevoll erklären.