Das Geschäft mit der Moral
Seit einigen Jahren kann man eine kontinuierliche Zunahme an professionellen Moralistinnen und Moralisten beobachten, die in Kürze einen vollkommen neuen Markt erschaffen haben, auf dem sie mit moralischen Gewissheiten handeln. Dieser neue Moral-Markt schwebt gewissermaßen über dem „normalen” Markt und bildet zu diesem eine Art Über-Markt.
Was als kleines obskures Phänomen begann, ist mittlerweile einflussreiche Wirklichkeit. Heute ist es für viele Teil des Jobs, als Trader auf dem Moral-Markt aktiv zu sein. Das gilt speziell für Berufsgruppen, deren Arbeit zu großen Teilen für die Öffentlichkeit bestimmt ist bzw. vor den Augen der Öffentlichkeit stattfindet. Dazu gehören vor allem der Journalismus, die Poltik und die Kultur.
Auf diesem Markt ist Moral die Ware. Was als moralisch gut angesehen wird, steigt im Wert. Was als moralisch schlecht betrachtet wird, verliert an Wert.
Ausgelöst wird der „Handel” mit der Moral immer auf die gleiche Weise. Man erhebt Anklage und sogleich wird auch das Urteil gefällt. Wobei hier meist Anklage und Urteil identisch sind. Schon im Moment der Anklage gilt es, schnell zu sein, sich der Anklage anzuschließen und mit (eigenen) anklagenden Beiträgen seinen Wert zu steigern. Die Beweisführung zwischen Anklage und Urteil wird nur gestreift, fast immer aber direkt übersprungen. Entscheidend ist nur die (richtige) Moral. Sie bestimmt das Urteil und ihr Urteil ist immer eindeutig. Nuance, Ambivalenz und andere strapaziöse Zwischentöne sind verbannt.
Erfolgreich ist nur, wer auf der (richtigen) „moralischen“ Seite steht. Was die moralische Seite ist d.h. die (richtige) Moral, bestimmt, wie immer, der Marktmonopolist.
Dass die (richtige) Moral dabei vor allem Selbstzweck für diejenigen ist, die sie am besten einzusetzen wissen, macht das ganze Spiel besonders perfide.
Was aktuell als "moralisch” gilt, ist im Prinzip allen Markt-Teilnehmerinnen und Teilnehmern bekannt. Ein Graubereich bleibt dennoch bestehen. Er lässt Raum für Irrtümer d.h. falsche moralische Investments. So kann es passieren, dass selbst die fanatischsten Moral-Executives nicht davor gefeit sind, in kürzester Zeit als unmoralisch zu gelten und so mir nichts, dir nichts drastisch an (Moral)-Wert verlieren. Dieser Graubereich der Moral-Willkür hält den Schein einer Marktfreiheit aufrecht. Seine eigentliche Botschaft aber lautet: niemand soll sich sicher fühlen.
Trotzdem hat das Spiel mit der Moral einen großen Reiz, denn auch wenn jede und jeder beständig mit der Gefahr leben müssen, irgendwann selbst Opfer und damit Loser zu werden d.h. Wertverluste zu erleiden, kann man in der Zwischenzeit sehr schön vom Moral-Markt leben. Denn man kann hier nicht nur seinen eigenen allen Menschen inhärenten Sadismus mit gutem Gewissen ausleben - man macht Leute fertig, ohne sich schlecht fühlen zu müssen, wenn man zum Moral-Markt-Monopolisten gehört - sondern auch ganz konkret Geld verdienen. Mit dem richtigen moralischen Investment steigert man ganz einfach seine gesellschaftliche Anerkennung und damit seinen Marktwert, wird besser bezahlt und hat letztlich ein wunderbares Leben, das alles umfasst, was zuletzt im Absolutismus möglich war: reich sein und sich dabei den meisten Menschen (vor allem der Masse) gegenüber moralisch überlegen fühlen. Zugegeben, eine sehr komfortable Position.
Die Gewinner bei diesem Spiel sind dabei nicht die klassischen Konservativen und auch nicht die klassischen Linken (Sozialistischer Prägung), sondern die Liberalen (im Sinne der Liberals). Sie predigen, moralisieren, zensieren, schmähen, schimpfen, klagen an und urteilen unermüdlich. Und am Ende gewinnen sie und profitieren.
Der Umstand, dass es sich um die Liberalen/Liberals/New Democrats handelt, erklärt, warum sie keinen großen Gegenwind erfahren, sondern vielmehr auf die breite Unterstützung der Wirtschaft stoßen. Das Geschäft mit der Moral ist eben sehr lukrativ. Moral ist sexy, sie kleidet und funktioniert mittlerweile als Lifestyle-Produkt.
Kurz, sie passt perfekt in ein neoliberal geprägtes Wirtschaftssystem. Sie ist vibrant!
Mit der „Moral“ wurde also auf geschickte Weise ein neues Geschäftsfeld erschlossen. Ein Über-Markt kreiert: der Moral-Markt. Die Teilnehmer schlachten ihn für die eigenen Zwecke aus und wie die „normalen” Märkte wird auch der Moral-Markt von Skrupellosigkeit, Zielstrebigkeit und Effizienz bestimmt. Doch eine Sache ist anders. Der Moral-Markt ist unverhohlen autoritär.
Seine Profiteure weiterhin einfach Liberale zu nennen, auch wenn sie sich selbst so bezeichnen und von den meisten so bezeichnet werden, fällt mir schwer. Ich habe daher beschlossen sie, gerade wegen ihres autoritären Verhaltens, Restriktionsliberale zu nennen. Denn ihr schärfstes und erfolgreichstes Mittel, das ihnen beständig den Erfolg auf diesem Markt garantiert, ist nun einmal die Restriktion.
Diese Restriktionsliberalen besitzen mittlerweile auf dem Moral-Markt eine erschreckende Machtfülle. Wie in der Tech-Branche gibt es zwar auch auf dem Moral-Markt neben dem Moral-Monopolisten hier und da kleine Start-ups - im Falle des Moral-Markts heißen sie, abweichende Meinungen. Diese aber versucht man, sobald sie auftauchen, in konzertierter Aktion stillzustellen oder aber zu schlucken. Letzteres erfolgt, indem jene, die eine abweichende Meinung vertreten, so eingeschüchtert werden, dass sie sich "freiwillig" einsichtig zeigen und durch Unterwerfung unter das Moral-Monopol der Restriktionsliberalen Teil des "Unternehmens" werden.
In dieser Hinsicht ist die Marktpolitik der Restriktionsliberalen, der de facto Marktmonopolisten also, sogar noch rigoroser als die der großen Tech-Firmen und sollte daher mit den Marktprinzipien chinesischer Prägung verglichen werden: zentral, autoritär und komplett humorlos.
Die Restriktionsliberalen, die man gerne (besonders in konservativen, rechten Kreisen) als links(-liberal) bezeichnet, sind dabei genauso links wie die kommunistische Partei Chinas und genauso liberal wie die chinesische Marktwirtschaft. Im ersten Falle, was das Links-Sein angeht, also gar nicht, und was das Liberal-Sein der Wirtschaft angeht, sehr selektiv. Hier lässt man gerade so viel Marktfreiheiten (also abweichende Meinungen) zu, wie nötig sind, um den Schein zu wahren und das total-autoritäre System effizient und profitabel zu halten.
Es könnte also sein, dass der Moral-Markt, ohne dass sich irgendjemand dessen bewusst ist, die erste subtile Adaption eines chinesischen Modells ist. Nämlich jenes des "Social Credits".
Der europäisch-nordamerikanische Moral-Markt und das chinesische Modell der „Social Credits“ besitzen große Ähnlichkeiten. Bei beiden Modellen berechnet sich der Wert einer Person durch Äußerungen, Ideen; kurz, das eigene Verhalten. Die Weltanschauung des Menschen bestimmt seine materielle Wirklichkeit. Wie das "Social Credits" befindet sich auch der Moral-Markt noch in der "Testphase". Ob sein derzeitiger rasanter Erfolg längerfristig Bestand haben wird, ist genauso unklar wie die Zukunft des “Social Credits”.
Dennoch gibt es zwischen dem Moral Markt und dem chinesischen Modell der “Social Credits” einen entscheidenden Unterschied. Im Gegensatz zum “Social Credits” ist der Moral-Markt in Europa und den USA von sich aus entstanden und wurde nicht politisch oktroyiert. Er ist also ein selbst-gewähltes System, das dezentral funktioniert und nicht wie in China von der KP zentral bestimmt und gesteuert wird.
Während das chinesische “Social Credits” das gesamte Leben durchzieht und das Verhalten jeder Bürgerin und jedes Bürgers rund um die Uhr erfassen soll, um so ihren Marktwert, Ihre Kreditwürdigkeit etc. bestimmen zu können, ist der Bereich, in dem über den eigenen moralischen Aktienkurs auf dem europäisch-nordamerikanischen Moral-Markt verhandelt wird, fast ausschließlich auf eine Plattform begrenzt: Twitter.
Hier finden die entscheidenden moralischen Trades und Investments statt. Sie können zwar woanders beginnen (Zeitungen, Unis, Fernsehsendungen, Parteitage usw.). Die Entscheidung aber über die Folgen von Verhalten in Form von Begriffsverwendungen, Witzen, Formulierungen usw. fallen auf Twitter.
Das Marktverfahren ist dabei in seiner Grundstruktur ganz einfach und banal. Durch beständiges Tweeten verortet man sich moralisch auf der Plattform, wird Teil einer Community und festigt so seine Position. Wenn dann wieder einmal ein Twitter-Sturm über die Plattform jagt, gilt es unbedingt dabei zu sein und das Ereignis nicht zu verpassen. Denn ist man auf der moralisch richtigen Seite, steigt auch der eigene Marktwert sofort steil an. Je nachdem wie bedeutend man den Sturm gerade für den eigenen Moral-Marktwert betrachtet, schreibt man einen eigenen Thread zum Thema oder retweeted den Kommentar einer anderen Person zu jenem Thema, das gerade hoch im Kurs steht. Ersteres, d.h. der Thread, bedeutet mehr Arbeit, am Ende evtl. aber auch mehr Profit, letzteres, d.h. der Retweet, bedeutet genau das Gegenteil. Neben den regelmäßigen Posts beweist man gerade im Twitter-Sturm sich und vor allem allen anderen die eigene Tugendhaftigkeit (Moral) d.h. die eigene Moralische-Position.
Der größte Erfolg besteht natürlich darin, Initiator eines erfolgreichen moralisch korrekten Twitter Sturms zu sein. Gelingt es dann noch den Gegner (Angeklagten) von der Plattform zu drängen, ist der Triumph grenzenlos.
Auf diese Weise wird neben der Zahl an Likes und Retweets auf dem Moral-Markt der Erfolg und damit der Wert einer Person gemessen und bestimmt. Der Erfolg ist aber am Ende nur denen garantiert, die dem Marktmonopolisten angehören: den Restriktionsliberalen. Denn sie sind es, die das Geschäftsmodell mit der Moral überhaupt erfunden haben, die Regeln bestimmen und sie daher auch am besten kennen.
Abschließend kann man sagen: Auf Twitter testet derzeit die gesellschaftliche Elite an sich selbst das Modell der „Social Credits“. Einige gewinnen dabei in großem Stil, während andere zittern und mit Entschuldigungen oder Selbstgeißelung zu retten versuchen, was für sie noch zu retten ist. Dieses "Markt-Spiel", das die Restriktionsliberalen derzeit virtuos zu beherrschen wissen, ist gleichermaßen abstoßend wie faszinierend. Und der Charakter dieses Unterfangens ist weder sozial noch demokratisch, sondern kapitalistisch und autoritär. Die Mitte fällt endgültig weg. Auch auf dem Moral-Markt teilt sich alles nur noch in Gewinner und Verlierer, in (moralisch) Herrschende und Beherrschte.
Die KP Chinas beobachtet das Ganze währenddessen, lacht und denkt sich: Die Geschichte wiederholt sich. Einmal als Tragödie. Einmal als Farce.